MBVO-Expertengespräch mit Dr. Josef Kaesmeier – Zinsen bleiben niedrig

29. Juli 2016

Der studierte Volkswirt Dr. Josef Kaesmeier ist geschäftsführender Gesellschafter bei MFI Asset Management. Er kann auf 30 Jahre Berufs- und Branchenerfahrung zurückblicken und ist seit 1990 in unterschiedlichen Funktionen bei Merck Finck & Co., Merck Finck Invest/MFI Asset Management tätig, unter anderem als Chefökonom.

MBVO-Redaktion: An den Aktienmärkten hat man sich in letzter Zeit Sorgen wegen einer weniger expansiven Geldpolitik der US-Notenbank Fed, Währungsturbulenzen in Emerging Markets und einer möglicherweise stockenden Erholung der Weltwirtschaft gemacht. Zu Recht?

Josef Kaesmeier: Ich finde es amüsant, wenn ich höre, dass jetzt die Schwellenländer oder die Aktienmärkte zusammenbrechen, weil die Fed zehn Milliarden Dollar weniger druckt. Das ist natürlich völlig absurd. In einer Welt, in der täglich vier bis fünf Billionen  Dollar am Devisenmarkt gehandelt werden, sind nicht gedruckte zehn Milliarden Dollar schlicht zu vernachlässigen. Außer dass sie natürlich die Stimmung vermiesen. Bisher glaubte man, die Fed werde immer Geld drucken, egal was passiert. Die Japaner drucken ja inzwischen auch – und die EZB wird es nötigenfalls auch tun. Das „Heile-Welt-Bild“ der Kapitalmärkte hat nun einen Riss bekommen, weil man sieht, dass die Amerikaner doch vorhaben, diese Politik irgendwann zu beenden. Ich würde aber die jüngsten Rückgänge an den Aktienmärkten als ganz normale Korrektur einstufen. Die Aktienmärkte sind im vergangenen Jahr so gut gelaufen, dass Raum für eine ordentliche Korrektur gegeben ist. Ein DAX von 9.000 Punkten oder knapp darunter würde mich nicht irritieren. Das würde nichts am insgesamt doch ganz passablen Weltbild ändern.

MBVO-Redaktion: Heißt das, dass es über kurz oder lang wieder aufwärts geht mit den Aktienkursen?

Kaesmeier: Nehmen wir mal die US-Börsen. Dort sind die Kurse 2013 um rund 30 Prozent gestiegen, die Unternehmensgewinne aber gerade mal um knapp acht Prozent. Die Börsen waren im zweiten Halbjahr 2013 sehr euphorisch, was die Konjunkturerwartungen betraf. Da müsste es 2014 schon ziemlich gut laufen, damit diese Euphorie gerechtfertigt gewesen wäre. Nun sieht man plötzlich: So gut läuft es eigentlich gar nicht. In Europa sind die Problemländer noch die gleichen wie im vorigen Jahr, Griechenland braucht wieder Geld, ob es Portugal aus eigener Kraft schafft, ist auch ungewiss. Selbst in den USA fallen Indikatoren teilweise schlechter aus als erwartet. Deshalb tauchen Zweifel auf, ob die Konjunktur wirklich so gut läuft, wie man angenommen hatte. Und dann kommen Anlegern natürlich auch Zweifel, ob die Unternehmensgewinne so stark steigen werden, dass die hohen Bewertungen an den Aktienmärkten gerechtfertigt sind.

MBVO-Redaktion: Hat sich in den Schwellenländern so viel geändert, dass die nun abgestraft werden?

Kaesmeier: Man konnte eigentlich schon lange sehen, es gibt solche und solche.  Es gab schon immer Problemländer, zum Beispiel die Türkei. Das Land weist seit Jahren ein immens hohes Leistungsbilanzdefizit auf, der Boom war auf Pump aufgebaut. Das erinnert sehr an den Boom in Spanien Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Jedes Jahr wurde das Leistungsbilanzdefizit höher, das Wachstum war also ebenfalls mit ausländischem Geld finanziert. Doch das funktioniert auf Dauer nicht. Deshalb haben Länder wie die Türkei, Indien und neuerdings auch Indonesien Schwierigkeiten. Sie müssen ihre Wirtschaft und Finanzen wieder in Ordnung bringen.

MBVO-Redaktion: Investoren ziehen  jede Menge Geld aus den Emerging Markets ab. In welche Anlagen fließt die Liquidität eigentlich jetzt?

Kaesmeier: Offensichtlich in die Bondmärkte, was bis vor kurzem niemand für möglich gehalten hat. Seit Jahresanfang fallen die Anleiherenditen, obwohl man von vielen Seiten immer wieder hört, dass die Zinsen bei dem Niveau doch eigentlich nur steigen können. Aber da wäre ich sehr vorsichtig, die Zinsen können sehr lange sehr niedrig bleiben und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie weiter sinken.

MBVO-Redaktion: Die Schwellenländer reagieren auf die Geldabflüsse mit Zinserhöhungen. Wird das über kurz oder lang wieder zu mehr Kapitalimporten dieser Länder führen?

Kaesmeier: Nehmen wir einmal das Beispiel China. Da bin ich nicht so pessimistisch wie viele andere. Deren Fundamentaldaten sehen besser aus als die vieler anderer Länder. China hat Leistungsbilanzüberschüsse und immens hohe Devisenreserven, über die die Regierung jederzeit verfügen kann. Natürlich hat das Land auch Probleme, etwa am Immobilienmarkt. Aber die chinesische Wirtschaft wächst mit Raten von 7,5 bis acht Prozent und viele Aktien weisen ein historisch niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis auf. Da macht ein Einstieg für Anleger durchaus Sinn.

MBVO-Redaktion: Angeblich fließt viel Geld zurück in die USA, weil dort die Konjunktur in Schwung kommt und mit steigenden Zinsen gerechnet wird. Läuft die US-Konjunktur wirklich so gut?

Kaesmeier: Es ist verblüffend, wie volatil die Quartalszahlen der USA zuletzt waren. Daten wie der jüngste ISM-Einkaufsmanagerindex der US-Industrie, der kräftig gefallen ist, sind irritierend, und der entsprechende Index für Dienstleistungen fällt schon seit Monaten. Der Konsum hat sich zwar belebt, ist aber von früheren Zuwächsen weit entfernt. Man wartet darauf, dass die amerikanischen Unternehmen, die im Geld schwimmen, endlich anfangen zu investieren – aber sie tun es nicht. Solange das nicht geschieht, kommt kein nachhaltiger kräftiger Aufschwung zustande und das Wachstum bleibt schwach.

MBVO-Redaktion: Der bisherige US-Notenbankchef Ben Bernanke hat versucht, der Konjunktur mit einer extrem expansiven Geldpolitik zu helfen. Wird seine Nachfolgerin Janet Yellen diesen Kurs nahtlos fortsetzen?

Kaesmeier: Ja, das ist mein Eindruck. Frau Yellen hat sich bislang nicht als geldpolitischer Falke hervorgetan, im Gegenteil.

MBVO-Redaktion: Es gibt Fed-Beobachter, die prophezeien, Yellen werde die Wertpapierkäufe der Fed sofort wieder erhöhen, wenn der Konjunkturschwung ins Stocken gerät. Sehen Sie das auch so?

Kaesmeier: Das sehe ich genauso. Die Fed ist – wie EZB-Chef Draghi auch – eben nicht bereit, den Finanzmärkten etwas zu verweigern. Sie wollen das Ganze am Laufen halten, koste es, was es wolle.

MBVO-Redaktion: Heißt das, die Notenbanken sind gar nicht unbedingt von der Politik abhängig, sondern eher von den Finanzmärkten?

Kaesmeier: Definitiv. Man stelle sich vor: 2012 betrug das Bruttoinlandsprodukt der Welt 65 Billionen Dollar, das Volumen der Over-the-counter-Derivate 650 Billionen und der Devisenmärkte sogar 900 Billionen. Da ist ganz klar, dass hier der Schwanz mit dem Hund wedelt.

MBVO-Redaktion: Viele EZB-Beobachter rechnen damit, dass Draghi den Leitzins noch weiter senken wird. Sie auch?

Kaesmeier: Ich halte das durchaus für möglich, auch wenn ich es nicht gut fände. Damit will die EZB die Banken nur veranlassen, riskantere Geschäfte zu machen. Wenn ich mich nicht täusche, haben die Banken vor fünf Jahren Riesenprobleme bekommen, weil sie zu risikofreudig waren. Und nun zwingt die EZB sie geradezu, wieder mehr Risiken einzugehen.

MBVO-Redaktion: Käme eine neuerliche Leitzinssenkung am Aktienmarkt noch gut an?

Kaesmeier: Für den Aktienmarkt ist das natürlich wieder der Stoff, aus dem die Träume sind. Zusätzliche Liquidität erfreut die Börse. Wie nachhaltig das ist, ist eine andere Frage.

MBVO-Redaktion: Sind noch weitere expansive Maßnahmen der EZB denkbar, wenn es konjunkturell schlecht läuft?

Kaesmeier: Ja, wenn der erhoffte Aufschwung nicht kommt, wird die EZB auch zu unkonventionellen Maßnahmen greifen, wie es die Japaner gerade machen. Das ginge weiter zu Lasten der Sparer. Beispielsweise würde ein negativer Einlagenzins bedeuten, dass ich endgültig keine Rendite mehr für mein  Geld bekomme. Die Absicht der EZB ist, die Leute dazu zu bewegen, ihr Geld auszugeben. In Deutschland funktioniert das sogar halbwegs, der Konsum steigt, die Sparquote geht zurück. Das hat allerdings auch damit zu tun, dass es den Deutschen ganz gut geht und sie Vertrauen in die Zukunft haben. Aber wie sollen die Menschen in Griechenland, Portugal und Spanien optimistisch in die Zukunft schauen? Bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit. Da funktioniert das EZB-Modell nicht.

MBVO-Redaktion: Die zuletzt zu beobachtende Risikoscheu der Anleger ist also den Notenbankern ein Dorn im Auge?

Kaesmeier: Die Strategie der Zentralbanker ist wirklich hart. Sie senken die Zinsen für sichere Anlagen so weit, bis die Anleger mehr Risiken eingehen. Wie gesagt, es ist absurd: 2008 war das Problem, dass Banken, Versicherungen und Investoren viel zu hohe Risiken eingegangen sind. Wenn ich nun versuche, die Leute zu zwingen, mehr Risiken zu akzeptieren, glaube ich nicht, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

MBVO-Redaktion: Was brauchen wir denn, um auf den richtigen Weg zu kommen?

Kaesmeier: Dazu bräuchten wir das, was wir uns im zweiten Halbjahr 2013 erhofft hatten, dass nämlich der Konjunkturaufschwung ein Selbstläufer wird. Vor einem halben Jahr sah es so aus, als ginge es in allen Regionen der Welt aufwärts, was relativ selten vorkommt. In einem solchen Szenario könnten Verschuldungsprobleme gelöst werden. Zwei, drei Jahre Konjunkturaufschwung bräuchten wir aber schon.

MBVO-Redaktion: Dann würden wahrscheinlich auch die gegenwärtig kursierenden Deflationsängste verschwinden. Wie begründet sind die eigentlich?

Kaesmeier: Ich habe jetzt keine Angst, dass es zu Deflation kommt, wenn man Deflation definiert, dass die Preise jahrelang mit einer Rate von vielleicht zwei Prozent sinken. Aber wir werden weiterhin sehr niedrige Inflationsraten haben, was auch kein Wunder ist. Woher sollen Preissteigerungen kommen, wenn wir keinen selbsttragenden Aufschwung zustande bringen?

MBVO-Redaktion: Ist denn wenigstens bei der Eurokrise das Schlimmste überstanden?

Kaesmeier: Das mutige Auftreten von Herrn Draghi hat die Märkte beruhigt, das war natürlich Gold wert. Aber die EZB kann nur Zeit kaufen. Wenn die Politiker die Zeit nicht nutzen, um wieder auf die Beine zu kommen, hilft das nicht. Immerhin haben die Politiker viel gemacht. Sorgen mache ich mir, dass beispielsweise bei den Wahlen in Griechenland Euro-feindliche Kräfte gewählt werden. Angenommen, die beschließen den Austritt aus dem Euro und zahlen die Staatsschulden nicht zurück. Dann würde die neue griechische Währung massiv abwerten und der Fremdenverkehr einen gewaltigen Aufschwung erleben. Es ginge plötzlich wieder aufwärts mit der Wirtschaft des Landes. Dann könnten sich Portugiesen, Spanier und vielleicht sogar Italiener fragen, ob das nicht auch eine Option für sie wäre. In dem Fall wäre die Eurokrise wieder zurück.

MBVO-Redaktion: Auch ohne akute Eurokrise herrscht an den Aktienmärkten Unsicherheit. Dazu kommen extrem niedrige Anleiherenditen. Wie soll man da eigentlich sein Geld noch vernünftig anlegen?

Kaesmeier: Die gute Nachricht ist, dass die Aktienkurse jüngst kräftig nachgegeben haben. Wer jetzt einsteigt, fühlt sich sicherlich wohler als wenn er das bei einem DAX-Stand von 10.000 Punkten macht.

MBVO-Redaktion: Wie sieht es mit den Märkten anderer Länder aus?

Kaesmeier: Ich würde die Märkte, die in den vergangenen ein, zwei Jahren besser gelaufen sind, eher meiden. Stattdessen würde ich an die Märkte denken, in denen es nicht so gut lief, etwa bestimmte Schwellenländer. Aber man muss sich die einzelnen Länder genau ansehen. Afrika ist relativ stabil durch die Krise gekommen, China ist inzwischen günstig bewertet, Indonesien hat stark abgewertet und noch immer ein Wachstum, das sich sehen lassen kann. Wenn man den Schwellenländer-Index kauft, kann man im Moment auch nicht viel falsch machen.

MBVO-Redaktion: Wenn sicherheitsorientierte Anleger doch lieber in Anleihen gehen wollen, was würden Sie denen empfehlen?

Kaesmeier: Eher Unternehmensanleihen als Staatsanleihen. Die Bilanzen vieler Unternehmen sehen einfach erheblich besser aus als die Bilanzen von Staaten. Wir in Deutschland rühmen uns zwar immer, dass wir relativ gut dastehen, was auch stimmt. Aber absolut gesehen ist es immer noch eine Katastrophe. Wenn ich bei sprudelnden Steuereinnahmen, wie wir sie derzeit haben, nicht in der Lage bin, Schulden abzubauen, wann dann?

MBVO-Redaktion: Was halten Sie von Mittelstandsanleihen?

Kaesmeier: Da sollte man sich mit das Unternehmen schon sehr genau ansehen, bevor man investiert. Bei manchen Firmen muss man sich fragen, wie sie die Schulden jemals wieder zurückzahlen wollen.

MBVO-Redaktion: Herr Dr. Kaesmeier, vielen Dank für das Gespräch.

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